Orientierungssatz
Gemäß § 1944 Abs. 2 BGB beginnt die Ausschlagungsfrist mit dem Zeitpunkt, in welchem der Erbe von dem Anfall und dem Grunde der Berufung Kenntnis erlangt. Kenntnis setzt ein zuverlässiges Erfahren der maßgeblichen Umstände voraus, aufgrund dessen ein Handeln erwartet werden kann. Ein Irrtum im Bereich der Tatsachen kann Kenntnis in diesem Sinne ebenso verhindern wie eine irrige rechtliche Beurteilung, wenn deren Gründe nicht von vornherein von der Hand zu weisen sind.
Im Falle gesetzlicher Erbfolge ist Kenntnis vom Berufungsgrund dann anzunehmen, wenn dem Erben die Familienverhältnisse bekannt sind und er nach den Gesamtumständen und seiner subjektiven Sicht keine begründete Vermutung hat oder haben kann, dass eine ihn ausschließende letztwillige Verfügung vorhanden ist.
Abgerissene Familienbande können es aus Sicht des Erben nicht unwahrscheinlich erscheinen lassen, dass der Erblasser ihn durch letztwillige Verfügung ausschließen wollte und ausgeschlossen hat.
Sachverhalt
Gegenstand dieses Beschwerdeverfahrens war die Beschwerde des Landes Niedersachsen, mit dem es sich gegen die Feststellung des Fiskuserbrechts wehrte, also gegen die Feststellung, dass das Bundesland Niedersachsen mangels natürlicher Personen, denen das Erbe angefallen war, gesetzlicher Erbe geworden ist.
Die beiden Kinder des am 10.09.2020 verstorbenen Erblassers haben die Erbschaft mit am 17.05.2021 bzw. am 10.06.2021 beim Nachlassgericht eingegangenen notariell beurkundeten Erklärungen ausgeschlagen und zugleich die eventuelle Versäumung der Ausschlagungsfrist angefochten. Sie haben vorgetragen, dass sie seit über 20 Jahren keinen Kontakt mehr zu ihrem Vater gehabt und von seinem Tod erst durch ein Schreiben der Stadt H. vom 12.10.2020 erfahren haben. In der Folge sei ihnen bekannt geworden, dass der Erblasser seit ca. 20 Jahren eine Lebensgefährtin hatte, die die Beerdigung geregelt, deren Kosten übernommen und auch sonst den gesamten Nachlass abgewickelt habe. Sie seien deshalb davon ausgegangen, dass es ein Testament gebe, in dem die Lebensgefährtin als Erbin eingesetzt worden sei. Ob es tatsächlich ein Testament gebe, sei ihnen bis heute nicht bekannt.
Entscheidungsgründe des OLG Celle
Die zulässige Beschwerde hat keinen Erfolg. Der Senat kann nicht feststellen, dass andere Erben als das Land Niedersachsen vorhanden sind, nämlich die beiden Kinder des Erblassers. Die rechtliche Einschätzung des Amtsgerichts, dass die beiden Kinder die Erbschaft wirksam ausgeschlagen haben, ist zutreffend. Denn es ist nicht feststellbar, dass zum Zeitpunkt des Eingangs der Ausschlagungserklärungen die sechswöchige Ausschlagungsfrist gemäß § 1944 Abs. 1 BGB bereits zu laufen begonnen hat. Die Ausschlagungen sind daher fristgemäß erfolgt.
Die Ausschlagungsfrist beginnt mit dem Zeitpunkt, in welchem der Erbe von dem Anfall und dem Grund der Berufung Kenntnis erlangt. Kenntnis setzt ein zuverlässiges Erfahren der maßgeblichen Umstände voraus, aufgrund dessen ein Handeln erwartet werden kann. Im Falle gesetzlicher Erbfolge ist Kenntnis vom Berufungsgrund dann anzunehmen, wenn dem Erben die Familienverhältnisse bekannt sind und er nach den Gesamtumständen und seiner subjektiven Sicht keine begründete Vermutung hat oder haben kann, dass eine ihn ausschließende letztwillige Verfügung vorhanden ist. Abgerissene Familienbande können es aus Sicht des Erben nicht unwahrscheinlich erscheinen lassen, dass der Erblasser ihn durch letztwillige Verfügung ausschließen wollte und ausgeschlossen hat. So liegt der Fall hier.
Aus dem nunmehr vorgelegten E-Mail-Verkehr zwischen den Kindern des Erblassers und dessen Lebensgefährtin ist ersichtlich, dass die Lebensgefährtin sich auf eine "Bevollmächtigung bzw. Verfügung vom Amtsgericht" berufen und die beiden Kinder gebeten hat, den letzten Willen des Erblassers erfüllen und an dem von ihm gewünschten Ort auf ihre Kosten die Beerdigung organisieren zu dürfen.
Auch wenn weder von einem Testament noch von einer Erbenstellung der Lebensgefährtin die Rede ist, erscheint die Annahme der beiden Kinder, dass die Frau, die seit 20 Jahren an der Seite des Erblassers war, von ihm als Erbin bedacht worden ist, nicht abwegig, zumal die Lebensgefährtin offensichtlich in rechtlicher Hinsicht in der Lage war, den Nachlass des Erblassers auch im Übrigen abzuwickeln.
Auch das Schreiben der Stadt H. vom 12.10.2020 steht dem nicht entgegen. Denn das Schreiben richtete sich an die beiden Kinder des Erblassers nur als Angehörige aufgrund öffentlich-rechtlichen Bestattungsgesetzes. Ein Verweis auf eine mögliche Stellung der Kinder als gesetzliche Erben erfolgte in dem Schreiben nicht.
Bis zum Eingang der Ausschlagungserklärungen sind keine weiteren Umstände hinzugetreten, aufgrund derer sich den Kindern des Erblassers hätte aufdrängen müssen, dass ein sie enterbendes Testament nicht vorliegt und sie die gesetzliche Erben des Erblassers geworden sind. Vielmehr besteht im vorliegenden Fall die Besonderheit, dass die Kinder seit über 20 Jahren keinen Kontakt zu ihrem Vater mehr hatten und eine Enterbung nicht unwahrscheinlich war. Deswegen hatte die Ausschlagungsfrist nicht zu laufen begonnen.
Für Fragen auf dem Gebiet des Erbrechts steht Ihnen Herr Rechtsanwalt Justizrat Dr. Manfred Birkenheier, Fachanwalt für Erbrecht, gerne zur Verfügung.