Leitsatz
- Wird ein privatschriftliches Testament in der Wohnung des Erblassers gefunden und kann ausgeschlossen werden, dass Dritte ungehinderten Zugriff darauf hatten, ist davon auszugehen, dass Veränderungen an der Urkunde vom Erblasser selbst vorgenommen wurden.
- Ohne das Hinzutreten weiterer Umstände kann davon ausgegangen werden, dass großflächige Durchstreichungen, die sich über die gesamte Urkunde erstrecken, in Widerrufsabsicht angebracht worden sind.
- Die Feststellungslast für eine Widerrufshandlung des Erblassers in Widerrufsabsicht trägt derjenige, der sich darauf beruft.
- Keine hohen Anforderungen an den Beweis von Veränderungen durch den Erblasser, wenn sich die Urkunde bis zuletzt in seinem Gewahrsam befand und keine ernsthaften Anhaltspunkte für Veränderungen durch Dritte bestehen.
- Nach richterlicher Überzeugungsbildung vom Ausschluss der Veränderungen durch Dritte wird gemäß § 2255 Satz 2 BGB vermutet, dass der Erblasser Veränderungen in Widerrufsabsicht vorgenommen hat.
- Für eine Fortgeltungsabsicht bis zur Errichtung einer neuen Verfügung bedarf es belastbarer Anknüpfungstatsachen.
Sachverhalt
Die Erblasserin ist zwischen dem 25.09.2020 und dem 26.09.2020 verstorben. Sie war geschieden und kinderlos. Sie hinterließ ein handschriftliches Testament vom 07.03.2020. Darin setzte sie ihren Freund/Lebensgefährten, den Beteiligten zu 1), als Alleinerben ein. Ihre Brüder, die Beteiligten zu 2) und zu 3), wurden ausdrücklich enterbt.
Das 3-seitige Testament weist über alle drei Seiten jeweils mehrere Durchstreichungen auf, die den gesamten Text umfassen. Zudem wurde ein undatiertes und nicht unterschriebenes maschinenschriftliches Testament aufgefunden, das im Wesentlichen denselben Inhalt wie das handschriftliche Testament hat.
Auf der Grundlage des Testaments vom 07.03.2020 beantragte der Beteiligte zu 1) einen Erbschein, der ihn als Alleinerben ausweisen sollte.
Das Nachlassgericht kündigte mit Beschluss vom 21.04.2022 die Erteilung eines solchen Erbscheins an. Es begründete seine Entscheidung im Wesentlichen wie folgt: Das Testament sei durch die Durchstreichungen nicht widerrufen worden. Das eingeholte Sachverständigengutachten könne zwar keinen Aufschluss darüber geben, wann die Durchstreichungen erfolgt sind, mithin also auch nicht belegen, ob oder dass sie nach dem Tod der Erblasserin erfolgten. Da aber Zweifel verblieben, ob die Durchstreichungen von der Erblasserin vorgenommen worden sind, würden diese Zweifel zu Lasten der Beteiligten zu 2) und zu 3) gehen, zumal die Erblasserin noch kurz vor ihrem Tod Dritten gegenüber geäußert habe, ihre Brüder, die Beteiligten zu 2) und zu 3), sollten nichts bekommen.
Entscheidungsgründe des OLG München
Der Senat teilt nicht die Ansicht des Nachlassgerichts, wonach sich ein Widerrufswille der Erblasserin nicht feststellen lasse und deswegen das handschriftliche Testament vom 07.03.2020 fortgelte.
Das Testament wurde formwirksam errichtet. Zwischen den Beteiligten ist allein streitig, ob dieses Testament, das über alle drei Blätter, die physisch nicht miteinander verbunden sind, jeweils schräge Durchstreichungen enthält, die den gesamten Text umfassen, von der Erblasserin in Widerrufsabsicht durchgestrichen worden ist, oder ob die Durchstreichungen von einer dritten Person oder aber von der Erblasserin, aber nicht in Widerrufsabsicht erfolgten.
Grundsätzlich trägt derjenige die Feststellungslast für die Wirksamkeit eines Testaments, der Rechte aus diesem herleiten will. Die Feststellungslast für eine Widerrufshandlung des Erblassers in Widerrufsabsicht trägt derjenige, der sich darauf beruft.
Falls sich die Urkunde bis zuletzt im Gewahrsam des Erblassers befand und keine ernsthaften Anhaltspunkte dafür vorliegen, dass die Veränderungen an der Urkunde von Dritten vorgenommen worden sind, sind die Anforderungen an den Beweis, dass die Veränderung der Urkunde auf einer Handlung des Erblassers zurückzuführen ist, nicht hoch anzusetzen.
Unter Berücksichtigung dieser Grundsätze ist der Senat davon überzeugt, dass die Erblasserin das fragliche Testament vom 07.03.2020 in Widerrufsabsicht vernichtet hat.
Nach den vom Nachlassgericht durchgeführten Ermittlungen und nach der Beweisaufnahme vor dem Senat befand sich das Testament bis zum Tod der Erblasserin in deren Besitz. Der Beteiligte zu 1) schilderte im Rahmen seiner Anhörung, dass er das Testament in einem Stapel mit alten Zeitungen, Zeitschriften, Kontoauszügen und Katalogen gefunden hat. Dass es dort dem ungestörten Zugriff Dritter ausgesetzt war, lässt sich praktisch ausschließen, zumal sich die Erblasserin in der letzten Phase ihres Lebens überwiegend auf der Couch im Wohnzimmer aufhielt. Da die Erblasserin zudem als Person mit wenigen sozialen Kontakten beschrieben wurde, kann zur Überzeugung des Senats ausgeschlossen werden, dass Dritte zu Lebzeiten der Erblasserin Zugriff auf das Testament hatten und die Veränderungen vorgenommen haben, zumal nach der durchgeführten Anhörung der Beteiligten zu 2) und zu 3) feststeht, dass diese zu Lebzeiten keinen Zutritt zur Wohnung der Erblasserin hatten, da zwischen den Geschwistern seit vielen Jahren kein Kontakt mehr bestand.
Dass die Veränderungen nach dem Tod der Erblasserin und vor Abgabe der Verfügung an das Nachlassgericht von Dritten vorgenommen worden sind, ist nach der durchgeführten Anhörung der Beteiligten ebenfalls auszuschließen.
Der Beteiligte zu 1), der durch das Testament als Erbe berufen wurde, hatte zwar Zutritt zur Wohnung, da er über einen Schlüssel verfügte, aber keinerlei Interesse daran, die Veränderungen an der Urkunde vorzunehmen. Im Gegenteil: Er suchte das Testament und fand es schließlich in einem Stapel von alten Zeitungen und Zeitschriften. Daher kann ausgeschlossen werden, dass er die Veränderungen vorgenommen hat.
Die Beschwerdeführer hatten lediglich im Anschluss an die Beerdigung der Erblasserin Zutritt zu deren Wohnung und dort nach eigenem Bekunden lediglich Zugriff auf alte Familienfotos, die im Wohnzimmer verstreut lagen. Für die rein theoretische Möglichkeit, dass sie sich bei dieser Gelegenheit einen Schlüssel zur Wohnung verschafft hätten und das später aufgefundene Testament verändert haben, ließen sich keinerlei Anhaltspunkte finden.
Aus alledem ist zu schließen, dass die Erblasserin selbst die Streichungen vorgenommen hat. Gemäß § 2255 Satz 2 BGB wird mithin vermutet, dass die Erblasserin die Streichungen in Widerrufsabsicht vorgenommen hat.